ICF-Klassifikation

„Die Unterscheidung in behinderte und nichtbehinderte Menschen muss aufhören. Jeder hat gewisse Behinderungen, und wir alle haben emotionale Defekte“. Diese Worte von Bill Clinton, Schirmherr der Stiftung „My Handycap“, äussern nicht nur sein persönliches Engagement, sie sind auch Ausdruck einer veränderten Haltung zu Behinderung.

Diese Veränderung spiegelt auch die WHO-Klassifikation ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), die von der Weltgesundheitsorganisation im Jahre 2004 verabschiedet worden ist. Ihre Vorläuferin, die im Jahre 1980 verabschiedete ICIDH, wurde noch „Klassifikation der Krankheitsfolgen“ genannt. Nicht so die ICF, die unter dem Label „Klassifikation der Komponenten der Gesundheit“ weltweit Standards für neue Konzepte in der Gesundheitspolitik vorgibt. So rät denn auch Bill Clinton den Betroffenen mit Beeinträchtigung, sie sollen nach vorne schauen und ihre Stärken entfalten.

 

Ziele & Anwendung

Die ICF stellt eine einheitliche, fach- und länderübergreifende Sprache zur Verfügung, die einer neuen Sicht auf Themen wie Gesundheit, Krankheit und Behinderung entspricht. Sie bietet einen Rahmen, um Gesundheit und damit zusammenhängende Zustände zu beschreiben, und definiert Elemente von Gesundheit und Wohlbefinden.

Laut der ICF ist Behinderung nicht eine Eigenschaft der betroffenen Person, sondern zeigt sich in der „behinderten“ Beziehung zwischen betroffener Person und ihrer Umwelt. Die neue Klassifikation entspricht damit den auf politischer Ebene erhobenen Forderungen nach Gleichstellung und Integration von Menschen mit Behinderung.

Eine gemeinsame Sprache ist aber auch Voraussetzung für wissenschaftliche Untersuchungen und gesundheitsbezogene Vergleiche zwischen Ländern und Fachdisziplinen. Medizinische Behandlung, Therapien und Rehabilitationsprogramme und ganz allgemein der Bedarf an Unterstützung bis hin zu den Bedingungen am Arbeitsplatz können auf der Basis der ICF konzipiert werden. Sie erleichtert die Kommunikation zwischen Fachleuten, PolitikerInnen, der Öffentlichkeit und den Menschen mit Behinderung.

Die ICF bezieht sich an sich auf die Gesundheit, kann aber auch auf anderen Gebieten angewendet werden. So kann sie im Bereich der Sozialpolitik und der Bildung dazu dienen, den Förderbedarf und Unterstützungsmassnahmen abzuklären und zu planen. Letztlich ist ihr Hauptziel, die Partizipation einer Person zu verbessern, gesellschaftliche Hindernisse zu verringern und soziale Unterstützung zu fördern. Sie bezieht sich dabei auf die UN-Rahmenbestimmungen für die Herstellung von Chancengleichheit von Personen mit Behinderungen.

 

Grundbegriffe & Faktoren

Die ICF unterscheidet sich von ihrer Vorläuferin, der ICIDH, dadurch, dass sie Behinderung nicht mehr als Eigenschaft der betroffenen Person und nicht mehr als Defizit definiert. Sie geht von einen bio-psycho-sozialen Modell aus und differenziert zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren. Funktionsfähigkeit ist dabei ein Oberbegriff für Körperfunktionen und –strukturen einer Person, aber auch für ihre Aktivitäten und ihre Partizipation.

Behinderung hingegen ist der Oberbegriff für die Schädigungen, die Aktivitätseinschränkungen und Beeinträchtigungen der Partizipation. Kontextfaktoren können sich positiv (Förderfaktoren) oder negativ (Barrieren) auf die Funktionsfähigkeit auswirken. Sie werden in personenbezogene Faktoren und Umweltfaktoren unterteilt.

Unter „Aktivität“ versteht ICF die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung, während „Partizipation“ das Einbezogensein in eine Lebenssituation bedeutet. Ob eine Person eine Handlung ausführen oder eine Aufgabe übernehmen kann, hängt sowohl von körperlichen wie auch von Umweltfaktoren ab.

ICF richtet das Augenmerk nicht auf das Gesundheitsproblem, sondern auf seine Folgen für die Funktionsfähigkeit auf verschiedenen Ebenen. Und damit auch auf die Frage, welche Massnahmen nötig sind, damit eine Person tun kann, was allen möglich ist, und am Leben so teilhaben kann, wie es für alle möglich ist. Das umfasst auch den Abbau von gesellschaftlichen Barrieren und Vorurteilen.

 

Grenzen & Gefahren

Die ICF ist kein konkretes Anwendungs- oder Beurteilungsinstrument. Sie ist lediglich ein international anerkanntes Vokabular, das einen bestimmten Sprachgebrauch und entsprechende Kategorien vorschlägt: ein von der WHO entwickeltes Esperanto zur weltweiten Organisation von Gesundheits- Bildungs- und Sozialpolitik.

Die zu Beginn zitierten Worte von Bill Clinten enthalten eine Vision: Es soll keine Rolle mehr spielen, ob eine Person beeinträchtigt ist oder nicht. Oberflächlich betrachtet, kann diese Aussage auch zu falschen Interpretationen führen: Wenn wir alle behindert sind, braucht es auch keine besondere Unterstützung. Das könnte fatale Folgen haben: Der neue Blick auf Behinderung könnte dazu benutzt werden, um die Notwendigkeit und Legitimation der Sozialversicherungen in Frage zu stellen. Das darf nicht geschehen. Menschen mit Beeinträchtigungen bleiben auf Unterstützung angewiesen.

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