Rett-Syndrom

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Im Jahre 1965 beobachtete der Wiener Kinderarzt Andreas Rett im Wartezimmer seiner Praxis zwei Mädchen, die mit den Händen die gleichen repetitiven Waschbewegungen machten. Daraufhin begann er Kinder, die eine ähnliche Neigung zum stundenlangen Reiben und Kneten der Hände zeigten, systematisch zu vergleichen. 1966 publizierte er ein Buch über das neu entdeckte Syndrom, das aber keine Beachtung fand. Im Jahre 1983 veröffentlichte der schwedische Neurologe Bengt Hagberg einen Bericht über 35 erkrankte Mädchen, der dem Syndrom schlagartig zu weltweiter Beachtung verhalf.  Und 1998 entdeckten die Forscherinnen Huda Y. Zoghbi und Uta Francke aus den USA das entsprechende Gen. Der Name des Syndroms geht auf seinen ursprünglichen Entdecker Andreas Rett zurück.


Genetik & Diagnose

Das Rett-Syndrom wird durch ein mutiertes Gen ausgelöst, das auf dem X-Chromosom lokalisiert ist und MeCP2 (meck-pi-tu) genannt wird. Es gilt als erste funktionale Beeinträchtigung, als deren Auslöser ein verändertes Protein erkannt worden ist. Das Eiweiss des MeCP2 wird entweder falsch oder unvollständig aufgebaut.
Das MeCP2 ist dafür zuständig, dass sich die richtigen Gene zum richtigen Zeitpunkt in die Entwicklung des Gehirns einmischen. Es verhält sich normalerweise wie ein „Timer“. Das mutierte MeCP2 nimmt diese Aufgabe nicht wahr, und die Entwicklung des Gehirns verläuft völlig unberechenbar.

Das Rett-Syndrom konnte lange Zeit, als schwerer und typischer Verlauf nur bei Mädchen beobachtet werden. Da es aber seit dem Jahre 1999 möglich ist, mittels eines Gentests eine Diagnose zu erstellen, kann man das mutierte Gen nun auch bei Jungen feststellen.

Jungen mit dem mutierten Gen MeCP2 sterben häufig kurz vor oder nach der Geburt. Wenn sie überleben, weisen sie eine leichte Behinderung auf. Bei ihnen hat man neben den üblichen Geschlechtschromosomen XY ein zusätzliches X-Chromosom gefunden, das Träger des MeCP2 ist. Man spricht dann von einem Klinefelter-Syndrom.

 

Charakteristika & Entwicklung

Mädchen mit Rett-Syndrom entwickeln sich in den ersten Lebensmonaten völlig normal. Zwischen dem sechsten und dem achtzehnten Monat bleibt das Kind in seiner Entwicklung stehen. Danach bilden sich bisher erworbene Fähigkeiten wie Krabbeln, Laufen, Greifen und Sprechen zurück, und es zeigen sich die typischen Symptome: Stereotype Handbewegungen, die an Kneten, Waschen, Schlagen, Zupfen und Rupfen erinnern. Die Mädchen ziehen sich von der Umwelt zurück, verschliessen sich, um wiederum in Wein- und Schreikrämpfe auszubrechen. Ein Verhalten, das zur Fehldiagnose Autismus führen kann.

Um das fünfte Lebensjahr herum beginnt die pseudostationäre Phase, während der die Regression stoppt, das Kind wieder zugänglicher und lernfähiger wird. Dafür können epileptische Anfälle und eine Ataxie (breitbeiniger Gang mit schaukelndem Oberkörper) auftreten.

In der Pupertät steigt die Tendenz zu starken spastischen Anfällen und der Entwicklung einer Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung). Die motorischen Fähigkeiten bilden sich zurück, ein allgemeines Desinteresse an der körperlichen Bewegung setzt ein.

Die Entwicklung des Rett-Syndroms verläuft aber bei jedem Kind unterschiedlich. Und die Übergänge von einer Phase in die andere sind fliessend. Zeitlebens sind Lernfortschritte möglich. Die Mädchen – und später die Frauen – bleiben jedoch in ihren geistigen, emotionalen, kommunikativen und motorischen Fähigkeiten stark eingeschränkt.

Die Lebenserwartung ist normal. Eine heftige Lungenentzündung aufgrund der Skoliose oder Herzrhythmusstörungen können vereinzelt zu einem plötzlichen Tod führen.

 

Therapien & medizinische Behandlung

Das Rett-Syndrom ist eine genetisch bedingte Veränderung des Gehirns und kann nicht behandelt werden. Die Symptome hingegen können gelindert werden. Häufiges Luftschlucken, Hyperventilieren und Atemanhalten bedingen, dass sich Familienangehörige über erste Hilfsmassnahmen informieren. Treten epileptische Anfälle auf, muss das Mädchen unter ärztlicher Aufsicht antiepileptische Medikamente einnehmen. Da ihm die Kontrolle der Gesichts- und Zungenmuskulatur schwer fällt, treten oft Kau- und Schluckprobleme auf, was zu Unterernährung und Dehydration führen kann. Von der Ernährungsberatung über die logopädische Therapie bis zur Legung einer Magensonde gilt es je nach Mädchen die sinnvollste Lösung abzuklären. Physio- oder Bewegungstherapien können den Verlauf einer Skoliose positiv beeinflussen. Ev. werden im Laufe der Zeit ein Korsett oder eine Operation notwendig.

Die stereotypen Bewegungen, das charakteristische Merkmal des Rett-Syndroms, treten vermehrt auf, wenn das Mädchen überfordert ist oder sich langweilt. Regelmässig ablaufende Alltagstätigkeiten in anregender Atmosphäre und mit angemessenen Herausforderungen helfen, Menschen mit Rett-Syndrom aus ihrer Isolation und den repetitiven Bewegungen herauszuholen und Kontakt mit ihrer Umwelt aufzunehmen. Dass sie auf starke Aussenreize reagieren, kann eingesetzt werden, um eine Stereotypie oder eine Atemstörung zu unterbrechen. Intensive Farben und Klänge wecken das Interesse und motiveren, die Hände zu bewegen.

Unterstützend sind auch Musik-, Mal-, Sprach-, Schwimm-, Reit- oder Bewegungstherapien. In den USA hat man auch gute Erfahrungen mit den Delfintherapien gemacht. Es ist wichtig, die Therapie zu finden, die für das jeweilige Mädchen förderlich ist und sich gut in die Familie integrieren lässt.

 

Statistik

Auf 10'000 bis 15'000 Kindern kommt ein Mädchen mit Rett-Syndrom zur Welt. In 99.5% der Fälle gibt es pro Familie nur ein Kind mit Rett-Syndrom.

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