Fragiles-X-Syndrom

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Die englischen Ärzte James Purdon Martin und Julia Bell behandelten eine Familie, in der elf Männer eine geistige Behinderung aufwiesen. Sie verglichen die Männer unter wissenschaftlichen Standpunkten und beschrieben 1943 das Syndrom, das in der Folge Martin-Bell-Syndrom genannt wurde. Zwischen 1969 und 1977 erhärteten WissenschafterInnen weltweit die These des X-chromosomalen Erbganges, von dem bereits James Purdon Martin und Julia Bell ausgegangen waren. 1991 wurde das mutierte Gen von drei Forscherteams gleichzeitig entdeckt.

Genetik & Diagnose

Das Fragile-X-Syndrom entsteht durch einen Gendefekt, der sich über mehrere Generationen versteckt vererben kann, um sich dann plötzlich bemerkbar zu machen. Im Falle des Fragilen-X-Syndroms handelt es sich um das FMR1-Gen, das auf dem verlängerten Arm des X-Chromosomes liegt. Normalerweise kommen im FMR1-Gen sechs bis dreissig Tripletts vor (Informationseinheiten in Form von Basen). Im mutierten FMR1-Gen kommen 59 bis 1500 Tripletts vor. Ein mutiertes FMR1-Gen wird als FraX-Gen bezeichnet.

Im überaktiven FraX-Gen kommen nicht nur zu viele Tripletts vor, das Gen schaltet sich auch selbst aus. So kann das mutierte Gen seiner eigentlichen Aufgabe, den Austausch von Botenstoffen (Neurotransmittern) im Gehirn zu regulieren, nicht nachkommen.

Prämutation

Sind in einem FraX-Gen ca. 59 bis zweihundert Tripletts vorhanden, spricht man von einer Prämutation. Die Person ist Träger oder Trägerin des mutierten Gens. Es kann vorkommen, dass bei Trägerinnen die Menopause ab dem dreissigsten Lebensjahr einsetzt (POF-Syndrom), und sich bei Trägern altersbedingte Demenzerkrankungen bereits ab dem fünfzigsten Lebensjahr bemerkbar machen (FXTA-Syndrom).

Vollmutation

Um eine Vollmutation handelt es sich, wenn im FraX-Gen zweihundert bis 1500 Tripletts enthalten sind. Die Person ist vom Fragilen-X-Syndrom betroffen.

Vererbung

Der Erbgang des Fragilen-X ist ungewöhnlich. Die wesentliche Besonderheit besteht darin, dass eine Vollmutation ausschließlich bei der Weitergabe durch die Frau auftritt. Männer geben immer nur höchstens die Prämutation weiter (sogar dann, wenn sie selbst die Vollmutation besitzen!).

Wenn die Frau mit zwei X-Chromosomen (XX) die Prämutationsträgerin ist, können bei der Fortpflanzung die folgenden Situationen auftreten:

  1. Sie gibt ihr gesundes X-Chromosom weiter. Der Erbgang des Fragilen-X ist unterbrochen. Das Kind hat kein Fragiles-X-Syndrom.
  2. Sie gibt ihr Fragiles-X weiter. Dann können zwei Fälle auftreten:
    a) Die Anzahl Tripletts bleibt im Prämutationsbereich. Das Kind hat kein Fragiles-X-Syndrom.
    b) Es findet eine Erhöhung der Anzahl Tripletts in den Vollmutationsbereich statt. Das FMR1-Gen wird abgeschaltet, das Kind ist vom Fragilen-X-Syndrom betroffen.

Wenn der Mann mit einem X- und Y-Chromosom (XY) der Prämutationsträger ist, können bei der Fortpflanzung folgende Fälle auftreten:

  1. Er gibt sein Y-Chromosom weiter. Der Erbgang des Fragilen-X ist unterbrochen, der Sohn hat kein Fragiles-X-Syndrom.
  2. Er gibt sein (fragiles) X-Chromosom weiter. Es findet zwar keine Erhöhung der Anzahl Tripletts in den Vollmutationsbereich statt, aber die Tochter erbt die Prämutation und ist damit Überträgerin. In der nächsten Generation kann sich die Anzahl Tripletts bis zur Ausprägung des Fragilen-X-Syndroms (Vollmutation) erhöhen.

Je höher die Anzahl Tripletts war, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Erhöhung in der Folgegeneration, bis hin zur Vollmutation.

Besonderheit bei Mädchen

Mädchen sind anders betroffen als Jungen, vor allen Dingen viel unterschiedlicher, da sie zwei X-Chromosomen besitzen, also zusätzlich zu dem fragilen noch ein intaktes X-Chromosom. Bei Mädchen wird in jeder ihrer Körperzellen ein X-Chromosom stillgelegt. Es ist reiner Zufall, ob das betroffene oder das gesunde X-Chromosom abgestellt wird. So kann bei einem Mädchen in 80 % ihrer Körperzellen das intakte X-Chromosom aktiv sein – dieses Mädchen wäre wenig betroffen. Wenn aber umgekehrt in 80 % der Körperzellen das betroffene X-Chromosom aktiv ist, so ist dieses Mädchen viel schwerer vom Fragilen-X-Syndrom betroffen.

Diagnose

Das Fragile-X-Syndrom kann während der Schwangerschaft diagnostiziert werden (Chorionzottenbiopsie ab der zehnten Schwangerschaftswoche und Amniozentese ab der vierzehnten Schwangerschaftswoche). Das Vorhandensein des defekten Gens kann bestimmt werden. Der genaue Verlauf und die Intensität des Syndroms jedoch nicht.

Charakteristika & Entwicklung

Die typischen Merkmale des Syndroms verändern sich mit zunehmendem Alter der Betroffenen. Die körperlichen Merkmale fallen oft erst im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter auf. Bei Mädchen und Frauen sind die Symptome aufgrund der oben beschriebenen Variationen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei einer schwachen Ausprägung des Fragilen-X-Syndroms kommt es häufig vor, dass dieses nicht diagnostiziert wird oder erst dann, wenn die Geburt eines stark beeinträchtigten Jungen zu einer Genanalyse aller Familienangehörigen führt.

Äusserliche Merkmale des Fragilen-X-Syndrom sind ein längliches Gesicht, abstehende Ohren, einen stark ausgebildeten Kiefer, vergrösserte Hoden und überstreckbare Gelenke.

Autistische Züge, wie das Vermeiden von Blickkontakten, taktile Abwehrhaltung, verzögerte Sprachentwicklung, ausgeprägter Hör- und Geruchssinn, motorische Schwierigkeiten, Gleichgewichtsstörungen, manisches Handwedeln, zwanghaftes Wiederholen von Wörtern und Sätzen oder stundenlanges Repetieren von Tätigkeiten wie Türen auf- und zuschliessen oder Lichtschalter an- und abdrehen sind typische Symptome. Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizite und Lernschwierigkeiten können ebenfalls auftreten. Schwacher Saugreflex und leichter Schlaf, Ängstlichkeit, erhöhtes Geburtsgewicht, langes Einnässen, zwanghaftes Anklammern an Spielzeuge, Wutanfälle, wenig Interesse an der Umwelt und Unempfindlichkeit Gefahren gegenüber machen sich beim Kleinkind bemerkbar.

Diese Symptome, die in allen Kombinationen und Stärken auftreten können, sind aber auch bei nicht betroffenen Kindern zu finden.

Therapien & medizinische Vorsorge

Kinder mit Fragilem-X-Syndrom haben Schwierigkeiten sich gegen Aussenreize abzugrenzen. Auf Änderungen und Unvorhergesehenes wie auch Unbekanntes reagieren sie mit Angst und Stress. Sie fühlen sich in einem geregelten, überschaubaren, durchgeplanten Alltag am wohlsten. Menschen mit Fragilem-X-Syndrom sprechen auch sehr gut auf Rituale und Musik an. Da sie in der Regel eine „versteckte“ Sprachbegabung besitzen, oder diesbezüglich oft unterschätzt werden, lohnt es sich, die Kinder früh durch Logopädie zu fördern. Alle Therapieformen, die den Körper, die Sinne, und die geistigen Fähigkeiten anregen, sind sinnvoll.

Menschen mit Fragilem-X-Syndrom neigen auch dazu, für ein bestimmtes Gebiet eine grosse Leidenschaft zu entwickeln. Ihr Wissen und ihr Erinnerungsvermögen können dann ein überdurchschnittliches Mass erreichen.

Statistik

Auf 1200 Geburten gibt es einen Jungen, auf 2500 Geburten gibt es ein Mädchen mit Fragilem-X-Syndrom.
Bei 12% der Betroffenen treten autistische Züge auf. Bei 20% der Betroffenen kommt es zu epileptischen Anfällen. 80% der Jungen haben nach der Pupertät vergrösserte Hoden.

Bei 5% der Männer mit Prämutation bricht das FXTA-Syndrom im Alter von ca. fünfzig Jahren aus. Die Zahl der Frauen mit Prämutation, bei denen das POF-Syndrom aktiv wird, liegt zwischen 6 und 21%.

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